top of page

Sämtliche Textstellen der Schriften V. v. Weizsäckers zum Begriff einer „ärztlichen Vernichtungslehre“

 

Die folgende Zusammenstellung enthält in chronologischer Reihenfolge alle mir derzeit bekannten Textstellen innerhalb der Gesammelten Schriften Weizsäckers, die den Begriff "Vernichtung" im Sinne einer „Vernichtungslehre“ oder ärztlichen Maßnahmen der Vernichtung enthalten. Ich bitte alle Leser dieser Seite, die doch noch weitere Textstellen entdecken, mir diese mitzuteilen, damit ich sie zusätzlich aufnehmen kann.

​

Die Seitenangaben über den Zitaten beziehen sich jeweils auf die Fundstelle innerhalb der "Gesammelten Schriften" (Band 1 - 10), da die Texte V. v. Weizsäckers über diese Ausgabe aktuell am leichtesten verfügbar sind. Die Fundstellen werden so ausführlich wiedergegeben, dass ihr Sinnzusammenhang aus dem wiedergegebenen Text heraus deutlich wird. Die unmittelbare Textstelle wird durch Hervorhebung kenntlich gemacht.

​

Nicht aufgenommen wurden Textstellen, innerhalb derer Weizsäcker den Begriff „Vernichtung“ in ganz anderer Bedeutung gebraucht – beispielsweise als „Vernichtung“ der Sinnes­qualitäten durch die rein quantitativ betrachtenden Naturwissenschaften. Aber natürlich besteht für V. v. Weizsäcker auch zwischen diesen beiden unterschiedlichenAnwendungen desselben Begriffs eine strukturelle Übereinstimmung: In beiden Zusammenhängen ist der Akt der Vernichtung ein eigentlich unerwünschter aber unausweichlicher Vorgang, der so erhebliche Gefahren in sich birgt, dass er unbedingt bewusst erfasst werden sollte, da er nur auf diesem Wege so weit wie möglich begrenzt werden kann.

​

​

 

  1. Vor 1945: „Ärztliche Fragen. Vorlesungen über Allgemeine Therapie“

(gehalten im Sommersemester 1933, erstmals abgedruckt in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 59, 1933, S.1168-1703, sowie GS, Bd. 5, S. 259 – 342)

​

​

S. 323f:

„Denn in der konkreten Entscheidung erst zeigt sich, dass eine Sozialpolitik, die nur Erhal­tungspolitik treiben will, sich einer Illusion ausliefert. Sie übernimmt vom Arzt eine Haltung, die nicht einmal dieser selbst durchzuhalten vermag: die des Erhaltens um jeden Preis. Auch als Ärzte sind wir verantwortlich beteiligt an der Aufopferung des Individuums für die Ge­samt­heit. Es wäre illusionär, ja nicht einmal fair, wenn der deutsche Arzt seinen verant­wort­lichen Anteil an der  notgeborenen Vernichtungspolitik glaubte nicht beitragen zu müssen.

​

An der Vernichtung unwerten Lebens oder unwerter Zeugungsfähigkeit, an der Aus­schaltung des Unwerten durch Internierung, an der staatspolitischen Vernich­tungs­politik war er auch früher beteiligt. Jedes Gutachten läuft in einem strengsten Sinne entweder auf Erhaltung oder auf Opferung eines individuellen Lebens­interesses hinaus. Aber man darf sagen, diese Beteiligung an der Vernichtung sei als ein pudendum nicht offen und darum auch nicht wissenschaftlich und nicht systematisch behandelt worden: Es gab (und gibt noch heute) keine vollständige Vernichtungslehre, welche die rein als Erhaltungslehre auf­gebaute Heilkunst ergänzt. Die Berufung auf angeblich rein naturwissenschaftlich-objektive Kriterien verhüllte die geheim auch in ihnen enthaltenen Wertmaßstäbe, anstatt sie zu offen­­baren. Das Ergebnis ist, dass wir eine Art von versteckter und überdies an entschei­den­den Punkten lückenhafter Vernichtungslehre besitzen. Um diese Lückenhaftigkeit aufzu­zeigen, werden drei recht bekannte Beispiele genügen.

 

Das erste betrifft §51 des StGB, wonach eine Handlung nicht strafbar ist, wenn der Täter bewusstlos oder im Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit handelte. Es ist nun offenkundig, dass zahllose Straftaten durch eine zwar gleichfalls in der Natur begründete, aber darum noch nicht als Geisteskrankheit zu bezeichnende seelische Abwegigkeit zustande kommen. Nicht als aufgehobene, sondern als veränderte Zurechnungsfähigkeit müsste man ihre Ursache bezeichnen. In diesem breiten Grenzgebiet ist es der freie ärztliche Entscheid, welcher über das Ausmaß staatlicher Gewaltanwendung mitverfügt, ohne dass nun in dieser formalen Entscheidung der volkspolitische Sinn klar und deutlich zum Ausdruck käme: der Freispruch verändert nichts an der Bedrohung, welche von diesen Personen ausgeht; die Bestrafung lässt die Bedingungen der Tat ebenfalls unangetastet. Der sogenannte Psychopath bleibt eine ungelöste Aufgabe der Volkspolitik. Dies ist die eine der Lücken.

​

Nicht besser steht es mit der Frage der Abtreibung, deren Bestrafung gemäß § 218 und deren Zulassung im Falle der ärztlichen Vitalanzeige ein Stück Vernichtungspolitik darstellt, welche noch lückenhafter ist. Denn, wo die Kindererzeugung in einer sozialen Verelendung erfolgt, die das geborene Kind durch physische und moralische Not ebenso schwer bedroht wie die Abtreibung das noch ungeborene, da ist solche Zerstörung des schon geborenen Lebens kein weniger schlimmer Zustand wie die des ungeborenen. Kollektive Verantwortung ist nicht ein Geringeres als individuelle. Wenn das Volk den sozial bedingten Untergang nicht verhüten kann, wird die Bestrafung des individuell durch Abtreibung Herbeigeführten ihm nichts helfen. Das kleine Stück Vernichtungspolitik, welches legale (weil vital indizierte) Unterbrechung, Sterilisation und Strafvollzug nach § 218 vollziehen, wäre also ebenfalls eine gleichsam verschämte Stückpolitik, wenn sie nur individualmoralisch oder nur staatsökonomisch begründet würde - noch nicht Volkspolitik. Erst eine volkspolitisch zu Ende gedachte Vernichtungspolitik bewiese sich als nicht nur erhaltend, sondern auch als gestaltend."

​

 

S. 325 (unmittelbar anschließend):

„Unser drittes Beispiel entnehmen wir der Sozialversicherung, nämlich jener grundsätzlichen Entscheidung des Rentenversicherungsamtes vom 14.IX.1926, wonach ein Versicherter keinen Anspruch auf Entschädigung hat, wenn seine sich an den Unfall anschließende Erwerbsunfähigkeit auf der Vorstellung oder dem Wunsche, krank zu sein, beruht. Hier wird also, nachdem Krankheit, wie wir oben sahen, mit Erwerbsunfähigkeit ungefähr gleichgesetzt war, das umgekehrte nicht zugelassen: Dass Erwerbsunfähigkeit unter allen Umständen auch Krankheit bzw. den ihr anhaftenden Rechtsanspruch begründet. ….

 

…. Auch hier gibt es eine Art von notwendiger Vernichtungspolitik, nämlich die Zerstörung der subjektiven Ansprüche im Falle der Ablehnung der Rente. Die Grenze, bis zu der diese notwendige Härte um des Ganzen wie um des Einzelnen willen gehen muss, ist aber, wie sich jetzt zeigt, wiederum ganz lückenhaft gezogen und darum auch falsch. Denn welchen Sinn könnte es haben, den durch Nervosität Erwerbsunfähige von der Sicherung auszuschließen, dem durch Kriegsverletzung oder Betriebsunfall verstümmelten Erwerbsfähigen aber eine Rente zu zahlen? Denn die allzu einfache Entscheidung, der Nervöse sei eben der Minderwertige, der Kriegsverletzte usw. der volkspolitisch Wertvolle – diese Entscheidung wäre ebenso irrig wie in den Wirkungen unerziehlich.

 

 

S. 328:

„Sprechen Sie dagegen einem Antragsteller die Krankheit und damit die Unterstützung ab, so kann das gleichfalls Vernichtung bedeuten. Wir handeln dann zwar pflichtgemäß nach Wortlaut und Geist der Krankenversicherung, aber de facto ist die Entziehung der Unterstützung nicht selten ein wesentlicher Schritt auf dem Marsch in die Not; Not bedeutet aber für einige auch Tod.

Will man leugnen, dass die Handlung des Arztes genau wie die jedes anderen Berufstätigen ein Glied in der Kette der Erhaltungsmaßnahmen und der Vernichtungsmaßnahmen ist? Wir sagen nicht, es sei wünschenswert, sondern es sei unentrinnbar, und der Zusammenhang müsse ganz ins Bewusstsein erhoben werden. ....Korrektes Verhalten in der bestehenden Ordnung entlastet nicht von der Verantwortung für diese Ordnung selbst. Es ist gewiss unangenehm, dass der Arzt sich nicht von dem Gesetz des Vernichtens emanzipieren kann , aber es ist ein Glück, wenn er durch diese Verstrickung Gelegenheit bekommt, der blinden Vernichtung Einhalt zu tun und das Handeln aus dem Geiste zu lenken, auch wo es Vernichtung heischt. So wird der Arzt politischer Arzt; so nimmt er auch sein Teil Gefahr auf sich.“

 

 

S. 328/9:

„Leicht ist zu erkennen, dass der wirksamere und zugleich größere Teil der sozialen Therapie oder Rassenhygiene immer in Erziehung und Hilfe, nicht in der Vernichtung von Organen und Aufhebung der Bewegungsfreiheiten bestehen kann. Eheverbot, Sterilisation, Internierung lassen sich als vernichtungspolitische Maßnahmen in der Regel nur aus biologischen oder vernünftig-ökonomischen Gesichtspunkten, aus Gründen der Sicherung und Erhaltung anderer Personen u, dergl. hinreichend ableiten, wobei die Erbbiologie für sehr weitgehende Maßnahmen noch ungenügend vorbereitet ist. ......„Einer erbbiologisch begründeten Medizin der Auslese und zugleich der Vernichtung fällt daher ein überaus wichtiger, aber schmaler Raum im Gesamtaufbau sozialer Therapie zu.

 

 

S. 330:

„Kann doch auch der Züchter nur dann die Gesamtqualität halten, wenn er den Schematismus der Auslese immer wieder unterbricht und neue Mischungen zulässt. Für die Medizin vor volksgesundheitlichen Aufgaben heißt dies, dass für Züchtung und Auslese die rein negativen und vernichtungspolitischen Maßnahmen ihre eigene Grenze bedeuten, nicht den Inhalt selbst."

 

 

Hiermit sind sämtliche Fundstellen des Begriffs "Vernichtung" in sämtlichen Texten V. v. Weizsäckers bis 1945 wiedergegeben.

​

​

​

​

 

2. Nach 1945: „Euthanasie und Menschenversuche“

 

(erstmals abgedruckt in: Zeitschrift Psyche, 1, 1947, S. 68 - 102, sowie in: GS, Bd. 7, S. 91 – 134)

​

S. 95 - 98:

„c) Die Willensbildung bei ärztlichen Vernichtungsmaßnahmen

 

Zunächst muss klargemacht werden, dass zahlreiche ärztliche Handlungen absichtlich oder unvermeidlich mit Vernichtungsmaßnahmen verbunden sind. Man kann also von einer ärztlichen Vernichtungsordnung sprechen und muss, nach dem, was geschehen ist, bedauern, dass eine solche nicht früher und bis heute in keinem Lande aufgestellt oder nur in Bruchstücken vorhanden ist.

 

  1. Eine absichtliche Vernichtung betrifft zunächst nur einen Teil eines Körpers. Eine Amputation, in gewissem Sinne aber jede chirurgische Operation, vernichtet Gewebe, um dem übrigen Organismus zu helfen.

  2. Vernichtung eines ganzen lebensfähigen Organismus muss vorgenommen werden bei pathologischen Geburten, wo man zwischen dem Leben der Mutter und dem des Kindes wählen muss und das der Mutter wählt, um eines von beiden und dann das „wertvollere“ oder unentbehrlichere zu erhalten. Ähnlich liegt der Fall bei der sogenannten ärztlichen Indikation zum künstlichen Abort, zur Schwangerschafts­unter­brechung. Auch die Sterilisation und Kastration aus ärztlicher Indikation hat diesen Charakter, mit dem Unterschied, dass hier noch ungezeugtes Leben verhindert, also gleichsam als potentielles schon vernichtet wird.

  3. Eine andere, nämlich nicht absichtliche oder unvermeidliche Art der Vernichtung kommt beim sogenannten ärztlichen Risiko vor. Beispiele sind die Narkose, die Pockenschutzimpfung, deren Risiko statistisch genau erfassbar sind. Von solchen Fällen erstreckt sich eine kontinuierliche Reihe bis zu einmaligen Vorkommnissen, die statistisch unbeherrschbar sind.

  4. Eine Sonderstellung nimmt der Arzt ein, der eine bisher unerprobte Heilmethode erstmalig einzuführen sucht. Auch hier besteht ein Risiko; aber der Arzt ist nicht gedeckt durch die communis opinio der Ärzte oder des Publikums. ….

  5. Schädigungen und Todesfälle durch „Kunstfehler“ besagen soviel, dass ein Arzt fahrlässig eine Vernichtung herbeigeführt hat in Missachtung oder Unkenntnis allgemeiner anerkannter Kunstregeln. ….

 

Dies fünf Vorbemerkungen waren nötig, um das Problem der Willensbildung bei ärztlichen Vernichtungsmaßnahmen sachgemäß zu behandeln.

….dass es keine Medizin geben kann, in der Vernichtungsmaßnahmen nicht bereits notwendig enthalten sind.

Da es, wie schon erwähnt, eine „ärztliche Vernichtungsordnung“ als Gesetz oder formulierte Standesvorschrift nicht gibt, wohl aber die Vernichtung als notwendiger Bestandteil die ärztliche Handlung überall begleitet, ist die Frage der Willensbildung dabei am besten zunächst durch einen Vergleich mit Vernichtungen außerhalb des ärztlichen Aufgabenkreises zu beleuchten. Hier gibt es legale, erlaubte und verbotene Vernichtung menschlichen Lebens.

Legale Vernichtungen sind Hinrichtungen, gemäß dem Strafgesetz, und der Krieg, gemäß dem Völkerrecht. ….Die gegenwärtigen Versuche, das Völkerrecht zu verändern, inter­essieren hier nur insofern, als es auch im Rechtsleben Wandlungen und einen Status nascendi geben muss, und ein solcher Zustand ist nun auch für die ärztlichen Vernich­tungs­maßnahmen als möglich zu fordern. Es kann sein, dass die ärztliche Vernichtungsgewalt von Zeit zu Zeit reformiert werden muss und dass wir gerade jetzt vor einer solchen Aufgabe stehen.

Der Krieg leitet über zu der erlaubten Vernichtung des Lebens: Sie kann, muss aber nicht angewendet werden. Hierher gehört die Notwehr und der Selbstmord. In beiden Fällen erfolgt die Willensbildung individuell, das heißt hier nicht durch eine Gesamtheit, die selbst legal ist. Diese Fälle stehen einer ärztlichen Vernichtung insofern nahe, als der Arzt in vielen Fällen als Einzelner entscheiden muss. ….

Diese Übersicht zeigt, dass für die Willensbildung bei Tötung aus ärztlicher Indikation zwei Momente zu beachten sind: die Legalität und die Übereinstimmung aller Beteiligten. …..

 

 

S. 98 – 105:

d) Die Motive einer Lebensvernichtung („Euthanasie“) vom ärztlichen Standpunkt aus

 

Es gibt drei Motive solcher Vernichtung: Unwert des Lebens, Mitleid und Opfer.

Die Vernichtung unwerten Lebens kann nur motiviert werden, wenn man den Wert eines bestimmten Lebens oder des Lebens allgemein positiv bestimmt hat. ….. Die Tötung wegen Unwert ist in keinem Fall zu motivieren aus ärztlichen Gründen, weil es sich nicht um Beseitigung zwecks Heilung, sondern wegen Unwert handeln soll…..

Wenn also ein religiöser Kranker und ein religiöser Arzt übereinkommen, dass der Tod gesünder ist als das Leben, dann kommt eine Vernichtung unwerten Lebens in Frage. Diese Auffassung hat aber nur dann einen Sinn, wenn das zeitliche Leben an sich überhaupt keinen Wert hat, sondern seinen Wert nur erborgt hat von dem ewigen Leben, auf welches das zeitliche vorbereitet. Diese Vorbereitung ist dann auch der eigentliche Sinn und Zweck der Medizin, und man erkennt, dass ihre Aufgabe nicht die Beseitigung des zeitlichen, sondern die Vorbereitung des ewigen Lebens durch das zeitliche ist. Hier bekommt also die Euthanasie einen völlig anderen Sinn: die ganze Medizin hat den Zweck der Euthanasie, nämlich der guten und richtigen Vorbereitung auf den Tod, der den Eintritt in das ewige Leben einleitet.

Man kann jetzt sagen: Die Vernichtung unwerten Lebens ist die Aufgabe der gesamten Medizin, aber die Vernichtung unwerten Lebens ist ein Mord wie jeder andere, da nur das zeitliche Leben getötet werden kann und da seine Vernichtung die Vorbereitung des ewigen Lebens abschneidet und verhindert. ….

Wenn nun der Arzt einen Wert des diesseitigen, zeitlichen Lebens annimmt, ohne Rücksicht auf einen ewigen Wert, dann kann in der Tat dieses zeitliche Leben auch an sich so unwert sein, dass es Vernichtung verdient. Die Bewertung etwa des rein biologischen Lebens hat also zur unmittelbaren Folge die mögliche Entwertung im biologischen Sinne und wird so zur geistigen Voraussetzung der Vernichtung dieses biologischen Unwertes. ….

Man kann dies auch so ausdrücken, dass die Definition des Lebens, welche seinen Sinn, Zweck oder Wert nicht als transzendent versteht, keinen inneren Schutz gegen den Begriff des unwerten Lebens im biologischen Sinn besitzt. Damit ist auch eine Brücke zu einer Vernichtungspolitik unwerten Lebens geschaffen. ….

Man sagt also, aus Mitleid mit den Qualen des Kranken kürze man sein Leiden ab, indem man ihn töte, transzendiere also sein physisches Dasein ebenfalls. …. Übrigens sind in vielen Fällen die Schmerzen, der Ekel, Erbrechen und Durchfall nützliche, dem Alarm und der Abwehr dienliche Leiden. Auch nützt das Mitleid des Arztes dem Kranken an sich nichts. …. Überhaupt ist die ursprüngliche Divergenz der Ziele von Kranken und Arzt die, dass der erste behandelt, der zweite helfen will. Diese Divergenz ist durch das Mitleid nie zu beseitigen; im Gegenteil könnte sie dadurch noch fixiert werden; nicht mitzuleiden, mitzuwirken sind wir da. …

Damit ist nun das dritte, oben als Opfer bezeichnete Motiv einer möglichen ärztlichen Lebensvernichtung erreicht. … Ich gehe hier nicht auf die religions- und kulturgeschichtliche Vergangenheit des Opfers ein. Seine modern wirksame Form scheint mir das Prinzip der Solidarität zu sein. …. So wie die Amputation eines brandigen Fußes den ganzen Organismus rettet, so die Ausmerzung der kranken Volksteile das ganze Volk. ….

Aber noch viel uneinsichtiger wäre es, die Macht des Opfergedankens zu übersehen, und ich behaupte, dass seine Verwendung im Nationalsozialismus die allergrößte Bedeutung für seine Mcht über viele Gemüter hatte. Ich behaupte ferner, dass die Durchtränkung seiner Ausrottungs und Ausmerzemaßnahmen mit der Opferidee vielleicht deren gefährlichste Kraft war. …

In der modernen Welt ist daher der Krieg die verbreiteste und unerschüttertste Anwendung des Opfergedankens geblieben, und wer den Krieg aus der Welt schaffen will, muss bedenken, dass er entweder den Opfergedanken abschaffen oder eine andere Form des Opfers herbeischaffen muss.

Diese Überlegung ist aber erforderlich, wenn man das Problem ärztlicher Vernichtung ganz verstehen will. … Ich höre sagen: Da haben Leute der Politik mit Terror und Verführung einige Ärzte zu unärztlichem Tun bewogen; diese haben daraufhin die Grenzen der Medizin überschritten; das geht die Medizin aber eigentlich gar nichts an. So ist es aber nicht. Was für eine Medizin war es denn, die so terrorisierbar oder verführbar war? Es muss einen Grund in der Medizin selbst geben. …. Die Medizin hatte sich zu sehr verengt auf eine naturwissenschaftliche Technik, die den Menschen nur als Objekt behandelt, anstatt den Menschen, der sich selbst zum Individuum und zur Gemeinschaft hin transzendiert, ins Auge zu fassen. Darum hat sie auch die Idee des Opfers in sich selbst nicht mehr gekannt und nicht realisiert. Darum wurde sie anfällig für die Idee des Opfers, die ihr nun von außen und in entarteter oder verlogener Gestalt aufgedrängt wurde. ….

Ich bin also gar nicht der Ansicht, dass es richtig ist, nur zu sagen, diese Ärzte hätten ihre Grenze überschritten. Man muss sagen, sie haben sie falsch überschritten. … Denn in der Art, wie die Vernichtungspolitik in der Form der Euthanasie und im Namen eines Opfers gemacht wurde, erfolgte gar nicht die Herstellung einer Solidarität und konnte also auch kein Opfer realisiert werden. Weder der Unwert des Lebens noch das Mitleid, noch der Opfergedanke in der Art seiner Anwendung sind also imstande, vom ärztlichen Standpunkt aus die sogenannte Euthanasie des NS-Regimes zu begründen. Aber es stellt sich heraus, dass die Wirksamkeit des Opfergedankens in die Medizin hineingehört und dass die moderne Medizin schuldig ist, ihn zu entwickeln. ….

 

 

S. 105 – 110:

e) Individualität und Totalität

 

…. Es ist nun nicht etwa falsch, diese Fragen im Geiste der Medizin zu lösen, sondern es wäre falsch von der Medizin, sie anderen Wissenschaften, Fakultäten oder Daseinsbereichen zu überlassen, diese Fragen von der Medizin aus also als extraterritoriale zu behandeln. Dass dies so richtig ist, zeigt sich daran, dass bei der Durchführung einer ärztlichen Vernichtungs­aktion die Einführung medizinfremder Gesichtspunkte jedesmal zu ärztlich unvertretbaren Handlungen führen kann. … Ich habe bereits ausgeführt, dass Lebensunwert und Mitleid keine ärztliche Tötung begründen können und dass nur die Idee des Opfers, aber in erst zu findender Form, eine ärztliche Motivation enthalten könnte. …

Dies angenommen werden nun die Aussichten ärztlicher Rechtfertigung der sogenannten „Euthanasie“ sehr ungünstige. Es ist klar, dass die, welche sie empfohlen oder befohlen oder durchgeführt haben, die Kranken nicht befragt haben, ob sie sterben und so sterben wollen. 

…. Auf eine ärztliche Rechtfertigung der „Euthanasie“ braucht er dabei keine Rücksicht zu nehmen; denn eine solche gibt es, nach meinem Urteil, nicht.

 

 

 

S. 110-111:

f) Die Unantastbarkeit des Lebens („Habeas-Corpus-Akte“ der Medizin)

 

…. Ebenso irreleitend ist es, die physische Vernichtung als unerlaubt, die psychische dagegen als freigestellt oder nicht feststellbar zu behandeln.

 

 

S. 111 – 112:

g) Ist der unheilbar Geisteskranke ein Mensch?

 

…. Das Ergebnis ist: Der Geisteskranke ist auch ein Mensch, und eine ärztliche Euthanasie mit der Begründung, er sei kein Mensch, kommt nicht in Frage.

 

 

S. 112 – 113:

h) Zusammenfassung: Eine ärztliche Indikation der sogenannten Euthanasie ist nicht möglich

 

Es war nur ein einziger Fall zu finden, in welchem die Abkürzung des Lebens durch ärztliche Handlung oder deren Unterlassung als sittlich anzuerkennen war: Der etwa an Karzinom unter Qualen Sterbende. Dieser Fall allein verdient den älteren Sprachgebrauch: Euthanasie. Es ist derselbe, den das Gesetz nicht zulässt, aber ich könnte mich nicht für eine gesetzliche Legalisierung oder die Aufhebung des § 216 StGB aussprechen. ….

Was hier als „sogenannte“ Euthanasie verhandelt wurde, verdient diesen Namen nicht und kann auch ärztlich nicht gerechtfertigt werden.“

 

 

 

​

bottom of page