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Die neuropathologischen Untersuchungen der in Lubliniec getöteten Kinder

- das Forschungsprojekt von E. Hecker -

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Im Sommer 1939 wurde in Berlin der sogenannte "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" eingerichtet (U. Benzenhöfer, 2020, S. 66). Am 18.08.1939 erging ein streng geheimer Runderlass des Innenministerium, durch den eine Meldepflicht für Kinder mit bestimmten Formen von Behinderungen anhand eines Meldebogen über die Gesundheitsämter an den Reichsausschuss eingeführt wurde (ebenda). Dieser entschied anhand der ihm vorgelegten Diagnositk, sowie der Begutachtung durch drei extra hierfür eingesetzter Gutachter über die Freigabe zur Tötung dieser Kinder. Diese wurde in der Rückmeldung des Reichsausschuss allerdings lediglich verschleiernd als "Freigabe zur Behandlung" bezeichnet (zu den genaueren Details dieses Vorgehens vgl. U. Benzenhöfer, 2020, S.81 - 116). Anschließend erfolgte die Überweisung der Kinder auf speziell hierfür eingerichtete "Kinderfachabteilungen" (U. Benzenhöfer, 2020, ab S. 116). Diese wurden von Ärzten geleitet, die zuvor nach Berlin einberufen, anschließend zum Besuch einer Art Modell-Kinderfachabteilung in Görden einberufen und dort in die Vorgehensweise bei der Tötung der Kinder über das Barbiturat Luminal eingeführt worden waren. Die erhöhten Dosierungen dieses Medikaments waren nicht unmittelbar tödlich, lösten aber innerhalb eines individuell sehr unterschiedlich langen Zeitraums eine Lungenentzündung, Herz- oder Nierenversagen aus, an denen diese Kinder kurz darauf verstarben. Als Todesursache wurde in den Krankenakten meist eine Lungenentzündung angegeben.

 

Anders als bei der Erwachsenen-Euthanasie, die erhebliche Proteste aulöste (beispielsweise die berühmte Predigt des Kardinal C. A. Graf von Galen am 3.8.1941 in St. Lamberti in Münster, in der dieser die Vernichtung lebensunwerten Lebens als Mord bezeichnete und öffentlich erklärte, er habe daher Strafanzeige erstattet, vgl. G. Aly, 2012, S. 174/5), wählte man also bei der Kinder-Euthanasie von vorneherein ein verschleierndes Vorgehen gegenüber der Öffentlichkeit. Dadurch überließ man andererseits den vor Ort Handelnden einen erheblichen Freiraum. E. Buchalik sagte innerhalb des Ermittlungsverfahrens gegen ihn zu seiner Fahrt nach Berlin und Görden aus, er habe alle Erläuterungen dort als eindeutige Aufforderung aufegfasst, in Loben ebenso zu verfahren. Es sei ihm aber kein direkter Befehl erteilt worden und man habe ihm sogar zu verstehen gegeben, dass man seine Entscheidung respektieren werde (Staatsanwaltschaft Dortmund, AZ/Reg.-Nr. 45 Js 08/65, Buch II) Wie anhand des sogenannten Luminal-Buches der Kinderfachabteilung B in Lubliniec (in welches täglich die verabreichte Luminal-Dosis für jedes Kind eingetragen wurde) nachzuweisen ist, ließ E. Hecker eigenmächtig Kinder auf die Kinderfachabteilung B (die Tötungsstation) verlegen, ohne dass eine Freigabe durch den Reichsausschuss bereits erfolgt war (siehe meine Ausführungen zu Gerda Kuschel). Es stellt sich daher die grundsätzliche Frage, ob die Anzahl der in Lubliniec getöteten Kinder durch das Vorliegen offizieller Dokumente wie die Freigabe durch den Reichsausschuss, die Einträge im Luminal-Buch oder das Vorliegen eines neuropathologischen Untersuchungsberichts überhaupt zutreffend zu bestimmen ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass E. Hecker auch ohne entsprechende Genehmigungen sondern lediglich nach ihrer persönlichen Einschätzung Kinder verlegen und töten ließ. Vergegenwärtigt man sich die Aussage des Überlebenden Jerzy Redlich (siehe die folgende Unterseite) und die sich daraus ergebende Größenordnung der täglich auf jener Station B getöteten Kinder, so gibt die Anzahl der heute noch vorhandenen Dokumente sicherlich nicht das tatsächliche Ausmaß der Morde wieder. Zudem muss nach zuverlässigen Aussagen von Pflegekräften davon ausgegangen werden, dass ein erheblicher Anteil an Krankenakten vor der Flucht der Deutschen aus Lubliniec in Säcke abgepackt und teilweise sogar von den sowjetischen Truppen nach der Übernahme der Anstalt vernichtet wurden (K. Marxen, H. Latynski, 1949, S. 113)

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Die Kinder-Euthanasie in Lubliniec wurde somit keineswegs "von oben befohlen", so dass die in der Klinik Entscheidenden gar keine andere Wahl gehabt hätten, als die Ermordung der Kinder durchzuführen ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Der tatsächliche Ablauf entspricht eher der von oben nachhaltig angeregten, schleichenden, aber immer umfassenderen Ausbreitung ärztlicher Vernichtungsmaßnahmen, vor der V. v. Weizsäcker gewarnt hatte. Deshalb hätte er diesen Begriff 1933/34 niemals in dieser zwangsläufig misszuverstehenden Weise verwenden dürfen. Dennoch hatte er ihn für jeden gründlichen Leser erkennbar ganz anders definiert als im Sinne einer Rechtfertigung der 'Euthanasie'. Seine weit gefasste Definition dieses Begriff, mit der er seine Anwendung nicht ausweiten, sondern klar begrenzen wollte, ließ die Vernichtung eines gesamten Organismus ausdrücklich nur für zwei Fälle zu: Den ärztlich indizierten Schwangerschaftsabbruch und den unter Schmerzen an einem Karzinom unheilbar Sterbenden. Dies sei bereits an dieser Stelle ausdrücklich angemerkt, weil es häufig falsch dargestellt wird (siehe die Unterseiten zu V. v. Weizsäckers "Vernichtungslehre", sowie zu einem Vortrag von M. Brumlik und die ausführlichen Zitate und Ausführungen dort).

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Bis kurz vor Beginn der Kinder-Euthanasie existierte in Deutschland noch keine eigenständige Kinder- und Jugenpndpsychiatrie. Deren Entstehen als von der Erwachsenen-Psychiatrie gesonderte Klinik und medizinische Fachrichtung ist in Deutschland eng verknüpft mit der Kinder-Euthanasie. Bis Kriegsende wurden - ähnlich wie in Lubliniec - innerhalb mehrerer Psychiatrischer Anstalten Jugendpsychiatrische Kliniken und innerhalb dieser etwa 30 "Kinderfachabteilungen" eingerichtet.

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Die im Rahmen des Dortmunder Ermittlungsverfahrens gegen die beiden leitenden Ärzte in Lubliniec (E. Buchalik und E. Hecker) aufgenommenen Aussagen der ehemaligen Pflegekräfte gehören - neben der Aussage eines ehemaligen Patienten - zu den erschütterndsten Dokumenten, die mir in diesem Zusammenhang bekannt sind. Es ist ein bis heute unfassbarer Justiz-Skandal, dass diese Ermittlungen nicht einmal zu einer Gerichtsverhandlung führten, obwohl die grausame Tötung dieser Kinder zweifelsfrei nachgewiesen wurde. Zwei der drei Gutachter schätzten jedoch den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Höhe der verabreichten Luminaldosierungen und dem Tod der Kinder als nicht zweifelsfrei erwiesen ein.

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"Die Schwächeren starben nach kurzer Zeit, manchmal sogar nach einigen Tagen. Am Anfang erbrachen alle Kinder nach der Verabreichung von Luminal, einige gewöhnten sich scheinbar daran, schwankten manchmal ein wenig, waren etwas benommen, aßen jedoch gut, liefen herum und spielten. Andere Kinder reagierten stärker, waren ständig in einem Halbschlaf, lagen blass, kraftlos, wurden lediglich zum Essen geweckt. Nach kurzer Zeit begannen sie dann hoch zu fiebern, hörten auf zu essen, röchelten, roter, manchmal blutiger Schaum zeigte sich auf den Lippen, schließlich starben sie. Als Todesursache gab man gewöhnlich Lungenentzündung an."

(Aussage einer polnischen Pflegekraft, Staatsanwaltschaft Dortmund, AZ/Reg.-Nr. 45 Js 65/008, 239, Buch II)

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Wer in regelmäßigen Abständen und hoher Anzahl neuropathologische Präparate dieser Kinder, denen ein entsprechender Auszug aus der Krankenakte mit der stets identischen Todesursache beigefügt war, untersuchte, musste sich unweigerlich die Frage stellen, wie es zu dieser kaum natürlich zu erklärenden Häufung an Todesursachen in derselben Einrichtung kommen konnte. Der Schluss auf eine gezielte Tötung dieser Kinder - zumal unter den damaligen politischen Verhältnissen - war praktisch die einzig denkbare Erklärung. Jene Kinderfachabteilung B wurde vom Gesamtleiter der Klinik, E. Buchalik, der über die verabreichten Luminaldosierungen genau Buch führen ließ,  geleitet. Die Verlegung der Kinder in diese Abteilung wurde von E. Hecker veranlasst. Auch Benzenhöfer (2007) vermutet, dass letztere sogar Kinder ohne das entsprechende Reichsausschuss-Verfahren aufgrund ihrer eigenen Einschätzung dorthin verlegen ließ. Wie viele Kinder dort insgesamt getötet wurden, ist nicht bekannt. Von den mindestens 292 erhaltenen Krankenakten enthalten über 200 einen Obduktionsbericht aus dem Neurologischen Forschungsinstitut in Breslau. Alle wurden von H. J. Scherer verfasst und unterzeichnet (nach der Zählung von K. Uzarczyk, 2017, mindestens 217).

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Der Weg der neuropathologischen Präparate von Lubliniec nach Breslau ist lückenlos geklärt. Wie E. Buchalik nach dem Krieg innerhalb des Ermittlungsverfahrens gegen ihn und seine Kollegin aussagte, wurden die getöteten Kinder von E. Hecker obduziert und die Präparate nach Breslau versendet. Sie landeten bei einer bestimmten Stelle der Universitäts-Verwaltung, von wo sie durch den Hausmeister des Neurologischen Forschungsinstituts abgeholt und direkt in die morphologische Abteilung Scherers gebracht wurden. V. v. Weizsäcker bekam sie innerhalb dieses Ablaufs gar nicht zu sehen, und schon gar nicht gingen die beigefügten Krankenakten über seinen Schreibtisch, wie immer wieder behauptet wird - ausgehend von der reinen Spekulation in einem Universitätsinstitut zur Zeit des Nationalsozialismus sei jedes Paket vom Chef kontrolliert worden.

 

Dieser Weg ist so sicher nachgewiesen, da es hierzu eine Zeugenaussage gibt. Sie stammt von einer der beiden damaligen Sekretärinnen, Frau D. Heinzmann (geb. Kobiletzky). Sie kam 1937 als Sekretärin O. Foersters in das Breslauer Institut. Bereits der damalige Leiter der Neuropathologie, O. Gagel, bot ihr an, einige Stunden pro Tag im histologischen Labor mitzuarbeiten. Hierzu führte sie in einem Brief an C. Penselin aus:

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„Da diese Spezialfärbungen von Gehirnen, Rückenmark und Nerven diplomierten med. techn. Assistentinnen auch nicht geläufig waren und sie diese auch erst hätten lernen müssen, konnte ich diese Tätigkeit ebenfalls erlernen….Ich führte im Laufe der 8 Jahre ….alle, auch die schwersten Färbungen aus, auch das Schneiden und Einbetten der Präparate. Außerdem verwaltete ich sämtliche Sammlungen, die Bibliothek und war auch in der Photographie tätig.“

(D. Heinzmann, 16.4.1989)

 

D. Heinzmann war also nicht bloß eine Instituts-Sekretärin, sondern bereits unter Gagel in die Öffnung der neuropathologischen Sendungen, sowie deren weitere Vorbereitung eingebunden. Sie kannte die genauen institutsinternen Abläufe bereits aus der Zeit vor V. v. Weizsäcker. Speziell an die Sendungen aus Loben in den letzten Jahren vor 1945 konnte sie sich sehr detailliert erinnern. Sie habe diese Sendungen - nach ihrem oben beschriebenen Weg von Lubliniec bis in die Abeteilung H. J. Scherers - in der Morphologie ausgepackt, sie in die entsprechenden Gläser gelegt, beschriftet und auch an deren Färbungen mitgewirkt. (D. Heinzmann, in einem weiteren Brief vom 9.8.1989).

 

Demnach war es gar nicht möglich, dass V. v. Weizsäcker selbst die Anzahl und Häufigkeit dieser Sendungen aus Loben oder gar die Inhalte der beigelegten Krankenakten - speziell die Todesursachen - hätten auffallen können – es sei denn einer der mit den Sendungen unmittelbar befassten Mitarbeiter hätte ihm seine Bedenken diesbezüglich mitgeteilt oder V. v. Weizsäcker selbst hätte sich genauer über die laufenden Untersuchungen und deren Grundlagen informiert. D. Heinzmann und ihrer Kollegin dagegen sind die hohe Anzahl der Sendungen in kurzen Abständen, sowie die immer gleichlautenden Todesursachen in den Krankenakten durchaus aufgefallen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sie ausgerechnet mit ihrer direkten Kollegin, die sie als überzeugte Anhängerin des Nationalsozialismus einschätzte (D. Heinzmann, 9.8.1989), dennoch über die ganz offensichtlich verschleierte Tötung dieser Kinder direkt gesprochen hat. Ebenso bedeutsam für die institutsinternen Zusammenhänge ist, wie sie mit ihren Bedenken gegenüber H. J. Scherer umgegangen ist. 1989 waren die Schilderungen M. Scherers über seinen Vater noch unbekannt. Aber es spricht für diese, dass D. Heinzmann sie unabhängig von ihm bereits damals vermutete:

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Ob er ein ‚Nazi‘ war, wage ich zu bezweifeln. Er hatte vorher einige Zeit in Belgien gelebt, hatte auch eine belgische Frau und damals eine kleine Tochter, an der er sehr hing. Die Familie sprach untereinander nur Französisch.“

(D. Heinzmann, ebenda)

 

Somit wäre es eigentlich naheliegend gewesen, wenn D. Heinzmann ihre Bedenken auch gegenüber Scherer geäußert hätte, dessen Ablehnung der Nazis sie ganz offensichtlich vermutete. Stattdessen jedoch führte sie in ihrem Brief aus:

 

„Ob Herr Scherer etwas von den Tötungen dieser Kinder gewusst hat, weiß ich nicht. Es wird ihm zumindest auch aufgefallen sein, dass bei den gehäuften Sendungen, immer in größerer Anzahl, es wohl nicht immer mit rechten Dingen zugegangen sein muss. Wir haben nie darüber gesprochen.

(D. Heinzmann, ebenda)

 

Zur Zeit des Nationalsozialismus war demnach die Bereitschaft zu einem offenen Gespräch über Verbrechen keineswegs nur abhängig von den ideologischen Überzeugungen der Gesprächspartner, sondern ebenso von der persönlichen Vertrautheit und dem Stand innerhalb der institutionellen Hierarchie.

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Wenn sich schon D. Heinzmann und H. J. Scherer niemals darüber ausgetauscht haben, dass zumindest ein Teil dieser Kinder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet worden waren, wie wahrscheinlich ist es dann, dass sie sich mit dieser Vermutung ihrem obersten Chef gegenüber zu erkennen gegeben haben? Es spricht alles dafür, dass Scherer und Heinzmann weiter diese Untersuchungen durchgeführt und zu den Hintergründen geschwiegen haben und V. v. Weizsäcker kaum etwas davon erfahren, aber sich eben auch nicht darum gekümmert hat, woher die Präparate seines Neuropathologen in dieser Zeit herkamen. Er wollte wohl eher gezielt nicht wissen, was ihn in Gewissenskonflikte hätte bringen können. Damit ist seine Mitverantwortung weder widerlegt noch geringer zu beurteilen, sondern einfach nur eine andere. Sie korrekt zu bestimmen, könnte dazu beitragen die Formen und Ursachen jenes Duldens und Schweigens besser zu verstehen, ohne welche die Kinder-Euthanasie nicht durchführbar gewesen wäre.

 

Die gegenseitige Wertschätzung V. v. Weizsäckers und H. J. Scherers lässt es andererseits wieder unwahrscheinlicher erscheinen, dass V. v. Weizsäcker gar nichts von diesen Untersuchungen und ihren Hintergründen wusste. Auch in seinem privaten Nachlass konnten bisher keinerlei Hinweise oder Äußerungen hierzu gefunden werden. Wenn also V. v. Weizsäcker etwas von den Hintergründen der Untersuchungen Scherers wusste oder ahnte, hat er dies für den Rest seines Lebens für sich behalten. Mir persönlich erscheint dies schwer vorstellbar. Aber auszuschließen ist es selbstverständlich nicht. Ab diesem Punkt beginnt einfach der Bereich der Wahrscheinlichkeitsaussagen und Spekulationen, zwischen denen jeder Leser dieser Seite nur für sich abwägen und entscheiden kann, was ihm am plausibelsten erscheint.

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Darüberhinaus stellt sich die Frage, wer überhaupt ein Interesse an der Untersuchung einer derart hohen Anzahl an Gehirnen zuvor im Rahmen der Euthanasie getöteter Kinder hatte.​ Wie bereits aufgezeigt, war V. v. Weizsäcker - trotz seiner begrifflich affirmativen Forderung einer Vernichtungslehre im Jahr 1933 - kein Befürworter der Euthanasie (siehe hierzu die entsprechende Unterseite). Die Ausrichtung seiner neurologischen Forschung stand in diametralem Gegensatz zu derartigen Untersuchungen. Aber auch der Leiter seiner neuropathologischen Abteilung, H. J. Scherer, hatte andere wissenschaftliche Interessen. Zu dieser Einschätzung kommt auch K. Uzarczyk von der Universität in Breslau, die sich ausführlich mit den Dokumenten zur Kinder-Euthanasie in Lubliniec auseinandergesetzt und darüber publiziert hat.

 

"The neuropathology of any mental deficiency was not the subject of Scherer's previous studies and it seems plausible that it was Elisabeth Hecker who requested the collaboration to which Viktor von Weizsäcker "declared his willingness"

(K. Uzarczyk, 2017, S. 198)

 

Da Scherers Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie als gesichert gelten kann, ist auch für seine Person mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass er jene Kooperation angestrebt oder gezielt ausgenutzt hat. Er verwendete die Ergebnisse der Untersuchungsberichte nicht für eigene Publikationen.

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Es spricht daher alles dafür, dass die treibende Kraft für diese Kooperation gar nicht in Breslau sondern in Lubliniec zu finden ist. Bereits Benzenhöfer (2007) fasst die bisherigen Kenntnisse hierzu aus medizinhistorischer Sicht folgendermaßen zusammen:

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"Unklar ist, wie der Kontakt zwischen Loben und dem Neurologischen Forschungsinstitut in Breslau zustande kam. Dass Scherer in Loben oder Hecker in Breslau war, ist bislang nicht belegt. Dass von Weizsäcker die Übersendung von Gehirn- und Rückenmarkspräparaten aus Loben nach Breslau veranlasst haben sollte, erscheint aufgrund seines völlig andersartigen Forschungsinteresses ausgeschlossen. Es hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Hecker sich Anfang 1942 an den Institutsdirektor in Breslau mit der Bitte um pathologische Diagnostik wandte, dass dieser sie an Scherer verwies und dabei sein Einverständnis erklärte, dass Scherer die Untersuchungen durchführen könne. Deshalb erwähnte Hecker wohl auch in einer späteren Veröffentlichung von Weizsäcker und das neurologische Forschungsinstitut. Deshalb waren dann wohl auch die Begleitschreiben zu den Präparaten aus Loben an das "Neurologische Forschungsinstitut Prof. v. Weizsäcker" gerichtet."

(Benzenhöfer, 2007, S. 160)

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Diese übereinstimmenden Einschätzungen von U. Benzenhöfer (2007) und K. Uzarczyk (2017) werden durch eine genauere Lektüre der bereits erwähnten Publikation von E. Hecker aus dem Jahr 1943, sowie ihrer Einträge in den Krankenakten bestätigt. Am 15.2.1943 meldete sie den 10jährigen Stanislaus mit der Diagnose "cerebrale Diplegie" an den Reichsausschuss. Zusätzlich vermerkte sie auf dem Meldebogen:

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"Es wäre erwünscht, die Ermächtigung bald zu bekommen, da die Mutter den Eindruck macht, als ob sie das Kind nicht sehr lange hier lassen wollte."

(zitiert nach M. Dahl, 2003)

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In einem weiteren Schreiben an den Reichsausschuss ließ sie sogar ihrem Ärger freien Lauf in Form einer wüsten Beschimpfung der Mutter, weil diese ihren Sohn Josef aus der Klinik heraus und mit nach  Hause genommen hatte.

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"Das Kind Josef L., geb. 17.3.1933, aus Bogutschütz Kreis Kattowitz ist am 23.9.1942 von der Mutter gegen Revers und ungeheilt nach Hause geholt worden. Die Mutter des Kindes war von einer beispiellosen Frechheit und weigerte sich, die Gründe für die Herausnahme ihres Kindes auch nur anzugeben."

(E. Hecker, 1942)
 

Es spricht für die Hartnäckigkeit, mit der E. Hecker nicht locker ließ, solche Kinder auch gegen den offensichtlich erheblichen Widerstand der Eltern der Euthanasie auszuliefern, dass derselbe Junge am 2.6.1944 doch wieder in die Kinderfachabteilung B aufgenommen wurde und dort am 7.8.1944 verstarb (laut Eintrag im Luminal-Buch). Man kann nur ahnen, welche Dramen sich hier um eine Mutter mit ihrem Kind abspielten, die offensichtlich ahnte, dass ihrem Sohn in dieser Einrichtung eine Gefahr drohte, und die bereit war sich zum Schutz ihres Kindes gegenüber der Lobener Tötungsanstalt zur Wehr zu setzen.

 

Beide Schreiben verweisen darauf, dass E. Hecker nicht nur der Verpflichtung zur Meldung solcher Kinder an den Reichsausschuss nachkam, sondern ein darüber hinausgehendes, eigenes Interesse an der möglichst baldigen Verlegung und Tötung derjenigen Kinder hatte, bei denen mit Schwierigkeiten durch die Eltern zu rechnen war. Ihr Aufsatz "Die Jugendpsychiatrische Klinik" wurde im "Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschließlich Rassen- und Gesellschaftshygiene" veröffentlicht. Diese Zeitschrift gab seit 1904 A. Ploetz, einer der einflussreichsten Begründer der "Rassenhygiene", heraus. Er entwarf 1895 eine Art rassenhygienische "Utopie", in welcher die Kinder-Euthanasie enthalten war:

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"Stellt es sich trotzdem heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches oder missgestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Aerzte-Collegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dose Morphium."

(A. Ploetz, 1895, S. 144)

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In dem von A. Ploetz herausgegebenen "Archiv für Rassenhygiene" schrieb E. Hecker:

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"Ein sehr umfangreiches Gebiet unserer Klinik ist auch die Erbbiologie. Später hoffen wir auch hierin Beiträge geben zu können. Sehr großen Wert wird auf die Klärung der Frage, ob ererbter oder durch Krankheit erworbener Schwachsinn vorliegt, gelegt. Wir benutzen dabei alle Methoden, die für uns erreichbar sind: Enzephalogramm, Sippenbearbeitung usw. .... Ich darf wohl nur andeutungsweise darauf hinweisen, welch gut untersuchtes Material auf der Pflegestation zusammenkommt, wenn nach dem Tode der Kinder das Gehirn durch das neurologische Forschungsinstitut in Breslau untersucht wird. Prof. von Weizsäcker, Breslau, hat sich in entgegenkommender Weise bereit erklärt, diese hirnpathologischen Untersuchungen machen zu lassen. Wir sind dabei, die klinischen Befunde, die Enzephalogramme usw. an Hand der pathologisch-anatomischen Befunde auszuwerten."

(E. Hecker, 1943)

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Aus diesen Sätzen geht eindeutig hervor, dass E. Hecker sowohl aufgrund ihrer positiven Einstellung zur Euthanasie, als auch im Zusammenhang der mit ihr verbundenen jugendpsychiatrischen Forschung - orientiert an einer lokalisatorischen Neurologie - die neuropathologische Untersuchung aller getöteten Kinder anstrebte.

 

Dieser Zusammenhang zwischen Kinder-Euthanasie und jugendpsychiatrischer Forschung ist kein Einzelfall. In der Zeit des Nationalsozialismus existierte nicht nur innerhalb der Neuroanatomie und Neuropathologie die Bereitschaft oder sogar das Interesse daran, die Euthanasie für die eigene wissenschaftliche Forschung auszunutzen. Die Jugendpsychiatrie war damals ein gerade erst entstehendes Fachgebiet der Medizin. Sie rang um ihre wissenschaftliche Anerkennung und institutionelle Ausbreitung. Die Einrichtung in Lubliniec zählte zu den ersten, die in Deutschland gegründet wurden. In seiner Untersuchung zur Rolle der Kinder- und Jugendpsychiatrie beim Umgang mit "lebensunwerten" Kindern im Dritten Reich kommt M. Dahl (2001) zu der Schlussfolgerung

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"Unabhängig davon war die Kinder-“Euthanasie“ organisiert, die den Versuch darstellte, auf wissenschaftliche Weise den „Lebenswert“ eines Kindes zu bestimmen. In „Kinderfachabteilungen“ wurden körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche auf ihren „volkswirtschaftlichen Wert“ hin untersucht und beobachtet. Fiel die Prognose ungünstig aus, wurden die Kinder mit Medikamenten oder durch Nahrungsentzug zu Tode gebracht. Eine weitere Aufgabe der „Kinderfachabteilungen“ lag in der Realisierung von Forschungsprojekten, bei denen der Tod der Kinder bewußt einkalkuliert wurde. Ein wichtiges Forschungsgebiet bildete die pathologisch-anatomische Hirnforschung."

(M. Dahl, 2001, S. 171)

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Fast alle mir bekannten Krankenakten der Kinderfachabteilung B enthalten genau in diesem Sinne ein sogenanntes "Encephalogramm". Sie wurden von E. Hecker erstellt und bildeten ganz offensichtlich einen wesentlichen Bestandteil ihres Forschungsprogramms. Dieses Verfahren - das man als eines der ersten bildgebenden Verfahren des Gehirns betrachten kann - wurde ausgerechnet in der Zeit des Nationalsozialismus besonders umfassend eingesetzt und weiterentwickelt. Dies ist sicherlich kein Zufall. Es war mit erheblichen Schmerzen verbunden, da hierfür beim Patienten über einen mit einer Nadel gestochenen Zugang Liquor aus dem Rückenmark abgelassen und Luft eingefüllt wurde. Selbst wenn diese Untersuchung unter Narkose durchgeführt wurde, verursachte sie nachfolgend erhebliche Schmerzen. Alle kurz gefassten Untersuchungsberichte dieser von E. Hecker durchgeführten Enzephalogramme werden durch den folgenden Satz eingeleitet:

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"25 ccm Liquor abgelassen, 20 ccm Luft eingeblasen und zwar fraktioniert"

(E. Hecker, Enzephalogramm bei Gerda K. vom 7.7.1942)

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Wie G. Klinda (2010) in ihrer Dissertation detailiert nachweist, bestehen enge Bezüge zwischen der Entwicklung dieses Untersuchungsverfahrens und der Kinder-Euthanasie, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann. Sie zieht am Ende ihrer Dissertation folgendes Fazit:

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"Die zunehmende Biologisierung der Medizin, in erster Linie der Psychiatrie, am Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch die immer stärker werdende rassehygienische bzw. eugenische Ideologie, bewirkten auch die schnelle Verbreitung des Verfahrens. Dadurch kann die Geschichte der En-zephalographie nicht allein als die einer innovativen medizintechnischen Untersuchungsmethode beschrieben werden. "

(G. Klinda, 2010, S. 179)

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"Den Höhepunkt der Anwendungshäufigkeit erreichte sie nach 1933, als Rassismus und Rassenhygiene zu einer der Grundlagen des nationalsozialistischen Machtsystems wurden und man dieses Verfahren zur Erbgesundheitsbegutachtung zunächst bei Sterilisations-, später auch bei Euthanasieopfern heranzog."

(ebenda, S. 11)

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In jedem das Encephalogramm einleitenden Satz verwies E. Hecker ausdrücklich darauf, dass die Luft "fraktioniert" eingeblasen wurde. Dieses Verfahren war nicht unumstritten. Es verweist darauf, dass E. Hecker es für wissenschaftlich möglich hielt - und eben dies zu ihrem besonderen Interesse gehörte - hinsichtlich bestimmter Krankheitsprozesse gezielte lokalisatorische Schlussfolgerungen aus der Untersuchung unterschiedlicher Liquor-Fraktionen abzuleiten (G. Klinda, 2010, S. 43). Auch hierin zeigt sich die lokalisatorische Grundhaltung der Jugendpsychiaterin E. Hecker, für die in genau diesem Sinne neuropathologische Untersuchungen als ideale Ergänzung ihrer Enzephalogramme anzustreben waren. Am Vergleich der Untersuchungsergebnisse hoffte sie sicherlich bestimmen zu können, welche hirnanatomischen und hinsichtlich bestimmter Geisteskrankheiten  relevaten Veränderungen mit der von ihr durchgeführten Encephalographie bereits nachweisbar waren.

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Den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Enzephalographie und der Kinder-Euthanasie konkretisiert G. Klinda am Beispiel der ersten aller jugendpsychiatrischen Einrichtungen in Görden, die als Modelleinrichtung die Tötung von Kindern mit Behinderungen über die Verabreichung von Luminal nicht nur praktizierte sondern auch durch Präsentationen den jeweils einbestellten Kollegen mit Nachdruck nahelegte. Auch E. Buchalik wurde zu einem entsprechenden Besuch in Görden verpflichtet. Es ist offensichtlich, dass sich in diesem Zusammenhang die Interessen einer lokalisatorisch orientierten Neurologie und Psychiatrie mit ihrem Bestreben, angeborene oder erworbene Geisteskrankheiten hirnorganisch nachzuweisen, verbanden mit einer Selektionspraxis entsprechender Patienten, die sich erstens kaum selbst zur Wehr setzen konnten und zweitens den untersuchenden Einrichtungen durch Zwangsmaßnahmen zugeführt werden konnten. Den Eltern wurde in Lubliniec das Unterschreiben einer Einverständniserklärung abverlangt. Auf dieser ist verschleiernd lediglich von einer Röntgenuntersuchung des Gehirns die Rede. Es ist zu bezweifeln, dass E. Hecker die Kinder und ihre Eltern darüber aufklärte, um was für eine Untersuchung es sich da genau handelte, und was auf die Kinder zukam. Es gab Patienten, die nach der Erstellung eines Encephalogramms verstarben.

 

"Hans–Wolfgang liegt stöhnend in dem riesigen Männerbett. Jedes Mal, wenn draußen auf dem Flur jemand vorbeigeht, schreit er laut auf. Er hat wahnsinnige, unvorstellbare Kopfschmerzen, die kleinste Erschütterung lässt sie bis zur Unerträglichkeit anschwellen. Denn Hans–Wolfgang ist erst vor drei Stunden aus dem Röntgenraum zurückgekommen, wo man sein Gehirn von allen Seiten aufgenommen hat. Und dazu gehört eine der schmerzhaftesten Prozeduren, die man sich denken kann. Um nämlich die Kammern und Hohlräume des Gehirns röntgen zu können, muss zunächst die Flüssigkeit abgelassen werden, mit der diese Räume gefüllt sind. [...] Der Patient jedoch steht in dieser Zeit Höllenqualen aus. Hänschen Simon hat das Gefühl, als sei sein Kopf ein riesiger Luftballon, der jeden Augenblick zu platzen droht.“

(G. Klinda, 2010, S. 6)

 

Ich gehe auf das konkrete Untersuchungsverfahren noch bei der Darstellung des Leidensweges einzelner Kinder (siehe die Unterseite "Kinder-Schicksale") genauer ein. An dieser Stelle sei jedoch darauf verwiesen, dass es genau diese Form von Neurologie oder Psychiatrie mit den entsprechenden Untersuchungsmethoden war, die V. v. Weizsäcker in seiner neurologischen Forschung nicht nur abgelehnt, sondern durch Experimente in natürlichen Situationen ersetzt hat. Dies belegt einmal mehr, dass sich jene hinrpathologischen Untersuchungen nicht in seine Forschungspraxis, sondern diejenige in Lubliniec nahtlos einfügten. Und es macht erst recht plausibel, dass die Initiative zum Einbezug hirnpathologischer Untersuchungen nicht von Breslau - und schon gar nicht von V. v. Weizsäcker - sondern von E. Hecker in Lubliniec ausging. Sie meinte die hinrpathologischen Untersuchungen dringend zur Vervollständigung ihres Forschungsprogramms zu benötigen, da die Enzephalogramme - wie das Foto unten veranschaulicht - vor allem die Hirnventrikel oder größere Läsionen abbildete, aber kaum eine Diagnostik der genaueren hirnanatomischen Strukturen ermöglichte.

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Kontaktaufnahme Hecker
Encephalogramm Ventrikel.jpg

Encephalogramm, Ventrikelwanderung auf die Seite einer Läsion hin, (abgebildet bei G. Klinda, 2010, S. 93)

 

Auch E. Hecker hatte als eine der ersten Jugendpsychiaterinnen in Deutschland ein wissenschaftliches Interesse an der Unterscheidung zwischen angeborenen und erworbenen Formen von Behinderungen bei Kindern und strebte hierfür die hirnpathologischen Untersuchungen in Breslau an. Dieses persönliche Interesse an einer entsprechenden Forschung war auch an anderen Orten der Kinder-Euthanasie für den Umfang der mit den Tötungen verbunden wissenschaftlichen Forschungsprojekte entscheidend.

 

​​"Die Forschungen wurden meistens vom individuellen Interesse der in den Kinderfachabteilungen arbeitenden Ärzte bedingt."

(G. Klinda, 2010, S. 122)

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Die Existenz eines solchen speziellen Interesses des örtlichen Arztes und des von ihm betriebenen Forschungsprojektes gilt insbesondere für Loben innerhalb der medizinihistorischen Forschung als nachgewiesen.

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"In einigen Kinderfachabteilungen, wie Berlin–Wiesengrund, Eichberg, Görden, Kalmenhof, Loben und Wien wurde eine intensive Differentialdiagnostik psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen betrieben. Diese beinhaltete die ausführliche Anamnese und körperliche Untersuchung, eine Ganzkörperfotographie, Intelligenz- und Berufseignungstest, psychologische Beurteilungen des Entwicklungsstandes, Pneumenzephalographien und andere Röntgenaufnahmen, Blut- und Liquoruntersuchungen und die Obduktionen nach dem Tod der Kinder."

(G. Klinda, 2010, S. 123)

 

Wie aus den Dokumenten des Dortmunder Ermittlungsverfahrens hervorgeht, waren an der vorausgehenden Diagnostik zusätzlich testende Assitenzärzte beteiligt, deren Ergebnisse dann durch eine abschließende Begutachtung von E. Hecker selbst zusammengefasst wurden. Die neuropathologischen Untersuchungen Scherers waren somit eindeutig ein Teil dieses Lubliniecer, nicht eines Breslauer Forschungsprojekts.

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In der oben angeführten Publikation kündigte E. Hecker eine bereits geplante Zusammenstellung ihrer Ergebnisse an. Zu alledem passen auch ihre auf V. v. Weizsäcker bezogenen, genauen Formulierungen. Sie schreibt nicht, er habe sie um die Übersendung entsprechender Präparate mit dem Ziel dieser Untersuchungen gebeten, sondern bezeichnet seine Bereitschaft als ein Entgegenkommen - höchst wahrscheinlich gegenüber ihrer diesbezüglichen Anfrage - wie Benzenhöfer bereits zurecht vermutete. Und sie formuliert nicht, dass er diese Kinder selber untersuchte, sondern die Untersuchungen habe machen lassen. Auch diese Wortwahl legt Benzenhöfers Schluss, V. v. Weizsäcker habe diese Anfrage dann verbunden mit seinem Einverständnis an Scherer weiterverwiesen, nahe. Diese Anfrage aus Lubliniec wird zu dieser Zeit nicht die einzige an das Neurologische Forschungsinstitut gewesen sein und bedeutet nicht, dass V. v. Weizsäcker persönlich über die genaue Anzahl und Hintergründe aller durch ihn formal genehmigten neuropathologischen Untersuchungen informiert gewesen ist. Dies ist vermutlich der entscheidende Punkt seiner Mitverantwortung: Er hätte sich besser informieren, es genauer wissen und falls er dies gemacht hat, seinen Bedenken lauter Gehör verschaffen müssen. Die Wiederlegung seiner aktiven Mittäterschaft, entlastet ihn nicht von der Verantwortung für sein Dulden und Schweigen als Leiter des Instituts.

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Der Großteil dieser Zusammenhänge und Publikationen sind seit Jahren bekannt. Wer dennoch weiterhin behauptet, V. v. Weizsäcker habe diese Untersuchungen der in Lubliniec ermordeten Kinder angestrebt, wiederholt entweder gezielt oder aus Unkenntnis klar wiederlegte Behauptungen, die dem aktuellen Stand der medizinhistorischen Forschung längst nicht mehr entsprechen. Wer V. v. Weizsäcker zum ideologisch überzeugten, aktiven Täter umdeutet, verdeckt damit einen entscheidenden Grund für die Durchführbarkeit der Euthnansie: Das Dulden und Schweigen selbst derjenigen, die eine Euthanasie ablehnten.

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