Die Aufgabe dieser Internetseite
Seit dem Gesundheitstag 1980 in Berlin wurden Formulierungen und Begriffe Viktor von Weizsäckers aus den Jahren 1933 bis 1935 kontrovers diskutiert. 1986 veröffentlichte K. H. Roth Belege, dass in V. v. Weizsäckers Neurologischem Forschungsinstitut in Breslau hirnpathologische Präparate untersucht wurden, die aus der Kinder-Euthanasie in Lubliniec stammten. Der damals begonnene, öffentliche Diskurs (siehe "Kontroverse Deutungen") wurde in den vergangenen Jahren kaum noch weitergeführt, sondern nur noch veraltete Standpunkte wiederholt oder Teilaspekte verkürzt wiedergegeben. Kürzlich erschien in der "Zeitschrift für Allgemeinmedizin" eine weitere, auf unzutreffenden Behauptungen basierende Darstellung (M. Brumlik, 2020). Deren Herausgeber lehnten es ab, ihren Lesern eine inhaltliche Klarstellung zugänglich zu machen (M. Kochen, 2020).
In dieser Situation ist eine möglichst umfassende Zusammenstellung der belegbaren Sachinhalte notwendig, um alle künftigen Autoren, sowie deren Leser in die Lage zu versetzen, sich eine fundierte Meinung zu bilden, ohne hierfür an zahlreichen Orten recherchieren oder auf die unbelegten Behauptungen anderer zurückgreifen zu müssen. In diesem Sinne stellt beispielsweise die Unterseite zur "Vernichtungslehre" dem Leser sämtliche Textstellen aus den zehn Bänden der im Suhrkamp Verlag erschienenen "Gesammelten Schriften" V. v. Weizsäckers zur Verfügung, in denen dieser Begriff auftaucht. Dadurch wird es jedem Leser ermöglicht, sich ein eigenes Urteil zu der Frage zu bilden, welche Vorstellungen V. v. Weizsäcker mit diesem Begriff tatsächlich vertreten hat. Obwohl Weizsäcker ihn für die Zeitspanne von 1933 bis 1945 auf genau sechs Druckseiten einer Vorlesung von 1933 in Heidelberg verwendete (V. v. Weizsäcker, 1933), werden diese Textstellen fast nie in ihrem inhaltlichen Zusammenhang korrekt wiedergegeben.
Die Ablehnung der "Zeitschrift für Allgemeinmedizin", eine Korrektur der Fehldarstellungen Brumliks zu drucken, erfolgte mit der Begründung, nach 10 Monaten erinnere sich der Leser kaum noch an den ursprünglichen Artikel. Die Veröffentlichung eines Kommentars sei nach so langer Zeit grundsätzlich unüblich (M. Kochen, 2020). Die bedenkenlose Verwendung ausgerechnet dieses Arguments bezüglich der Erinnerung an die Kinder-Euthanasie müsste eigentlich die Öffentlichkeit alarmieren über das unreflektierte Niveau, auf dem solche Diskussionen mittlerweile verlaufen. Immerhin betrachten die Historiker diese Verbrechen als Teil unserer jüngsten Vergangenheit. Die Schriftleitung der Zeitschrift "1999" veröffentliche einen Leserbrief zu jenem Artikel von K. H. Roth (1986) - zwar nach langwierigen Diskussionen und erheblich zensiert - aber trotz eines zeitlichen Abstands von mehreren Jahren (Penselin, 1990). Diejenigen, welche mit dem Anspruch der Aufklärung über die Medizinverbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus in den 80er Jahren jene Kontroverse um V. v. Weizsäcker in Gang brachten, bewiesen somit noch die Bereitschaft, sich selbst der öffentlichen Kritik zu stellen.
Diese Seite verfolgt daher die Aufgabe, V. v. Weizsäckers Haltung in der Zeit des Nationalsozialismus und seine hieraus resultierende Mitverantwortung anhand der zusammengetragenen Quellen historisch korrekt herauszuarbeiten und die Ergebnisse der öffentlichen Kritik zu stellen. Es geht nicht darum V. v. Weizsäcker zu verteidigen oder anzuklagen, sondern die Gedankengänge seiner Veröffentlichungen so präzise wie möglich zu bestimmen und die Motive seines Handelns, Schweigens und Duldens im Kontext der medizinhistorischen Tatsachen aufzuzeigen. Hinsichtlich der Verstrickung in die Kindereuthanasie gibt es vermutlich genauso viele unterschiedliche Haltungen und Motive wie "Verstrickte". Daher gibt es im Kontinuum zwischen den aktiv Tötenden und den lediglich etwas Ahnenden erhebliche Unterschiede. G. Aly hat in seinem Buch "Die Belasteten" zwei charakteristische Haltungen zur Euthanasie präzise auf den Punkt gebracht:
"Sie agierten halb geheim, doch inmitten der Gesellschaft. ...Nur wenige verurteilten das Morden deutlich, die meisten schwiegen schamhaft, wollten es nicht allzu genau wissen."
(G,Aly, 2013, S. 9)
Daraus zog G. Aly die Schlussfolgerung:
"Es reicht nicht, auf der einen Seite die vielen Opfer zu beklagen und auf der anderen rund 500 Nazitäter als gewissenlose Ideologen, Bösewichter oder Mörder in weißen Kitteln zu verteufeln. Auf Dauer bedeutsam, vielleicht lehrreich bleibt die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, nach jener Vielzahl von Menschen, die zwischen den unmittelbaren Mördern und den Ermordeten standen."
(G. Aly, 2012, S. 14)
Die hier vorgelegten Inhalte und Interpretationen sollen die ursprüngliche Kontroverse um V. v. Weizsäcker nicht endgültig klären, sondern auf dem mittlerweile erreichten Niveau fortführen - durch Interpretationen und Schlussfolgerungen, die den inzwischen verfügbaren historischen Quellen mit der größtmöglichen sachlichen Sorgfalt gerecht werden. Dies schließt die perspektivische Gebundenheit des Autors nicht aus. Auch sie soll bewusst reflektiert, sowie kenntlich gemacht werden. In diesem Sinne sei auf die Unterseite "Zu meiner Person" hingewiesen. Jene perspektivische Gebundenheit beinhaltet jedoch zugleich die Überzeugung, dass eine Analyse der Haltung V. v. Weizsäckers in der Zeit des Nationalsozialismus nicht allein aus einem einzigen Blickwinkel heraus - beispielsweise dem medizinhistorischen - möglich ist. Sie erfordert ebenso eine Einarbeitung in die allgemeinmedizinischen, sinnesphysiologischen, sozialmedizinischen und philosophischen Schriften V. v. Weizsäckers. Insbesondere sein Begriff der "Vernichtungslehre" darf keinesfalls im Sinne der jeweils eigenen Assoziationen, also in seiner suggestiven Wirkung auf den jeweiligen Leser offen gelassen werden, sondern muss auf dem Hintergrund der allgemeinmedizinischen Überlegungen V. v. Weizsäckers präzise analysiert werden. Und die neuropathologischen Untersuchungsberichte H. J. Scherers können nur dann angemessen beurteilt werden, wenn man die gesamte Situation berücksichtigt, in der sie erstellt wurden: Scherers Vorgeschichte, seine wissenschaftlichen Interessen, sein Verhältnis zu V. v. Weizsäcker, die neurologische Forschung dieses Instituts, die Herkunft der Präparate, die Umstände der Kinder-Euthanasie in Lubliniec und die Motive der Ärzte dort.
Darüber hinaus ist mir Folgendes wichtig: Den getöteten Kindern und ihrem Leiden als demjenigen konkreter Personen zu gedenken. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, mehr über die Täter als über die Getöteten zu wissen. Die wenigen Dokumente, die von dem oft nur kurzen Leben dieser Kinder erzählen, sind bisher zu selten beachtet worden. Deswegen will diese Seite dazu beitragen, die Erinnerung an sie am Leben zu erhalten - im Bewusstsein unserer untilgbaren Schuld und der Demut gegenüber allem, was ihnen angetan wurde.
Auf der Tötungsstation in Lubliniec gab es einen Jungen, Jerzy Redlich, der dort fast über die gesamten Zeit ihres Bestehens hinweg alles miterlebt und durch eine glückliche Fügung überlebt hat. Selbst nach den Kategorien der dort angewandten psychiatrischen Diagnostik und ihrem rational konstruierten Wahnsinn beurteilt, war Jerzy auf dieser Station 'falsch' untergebracht. Der tödlichen Selektion unterlief entweder ein Irrtum oder es wurden die Vorgaben dieser systematischen Morde ignoriert, um den Anweisungen seines Stiefvaters, eines SS-Mannes zu entsprechen. Dies zeigt einmal mehr, dass der totalitäre Einfluss der Nationalsozialisten weder in einer ausschließlich rational-systematischen noch in einer überwiegend irrationalen Theorie und Praxis gründete, sondern einer flexiblen Mischung aus beidem. Und sie wirkte weiter bis weit in die Geschichte der BRD. Für die beiden leitenden Ärzte in Lubliniec, E. Buchalik und E. Hecker, hätte die Zeugenaussage jenes Jerzey Redlich lebenslange Haft bedeutet, wenn nicht die bundesdeutsche Justiz dies mit der Einstellung des Ermittlungsverfahrens verhindert hätte. Trotz alledem fällt es schwer, dem abscheulichen Gedanken auszuweichen, dass Jerzys Unglück, an diesen Ort des Grauens geraten zu sein, doch einen Sinn gehabt haben könnte. Er war in der Lage sich später an alles zu erinnern und von seinen Spielkameraden, ihrem Sterben und ihren Mördern zu berichten. Seine Stimme vermisst man in anderen Einrichtungen dieser Art. Was er den polnischen Behörden Jahrzehnte später erzählte, ist erschütternd und zugleich der einfache, aber eindringlich formulierte Bericht eines Zeitzeugen von bewegender Authentizität. Es ist an uns, solche Berichte, wie wir sie Jerzy Redlich verdanken, nicht wieder in Archiven verschwinden zu lassen, sondern endlich öffentlich zu achten und in ihrer Bedeutung zu würdigen (nachzulesen unter dem folgenden Link).
Die Unterseite "Diskussion" ermöglicht es schließlich jedem Besucher, einen eigenen Beitrag zur permanenten Korrektur und Weiterentwicklung dieser Seite einzubringen. Historische Wahrheit wird hier nicht als objektiv vorliegend und lediglich von einzelnen Fachleuten aufzudecken verstanden, sondern als Verpflichtung sie im zeitlichen Wandel unseres Blicks auf die Vergangenheit gemeinsam immer wieder neu hervorzubringen. Nur so kann sie dazu beitragen, dass wir uns unserer eigenen Mitverantwortung für die Mängel und Ungerechtigkeiten der gegenwärtigen Gesellschaft stellen können.
Dies ist der Grund, warum mir gerade wegen meines persönlichen Bezugs zu V. v. Weizsäcker ein Schweigen hinsichtlich der zeitgeschichtlichen Deutung seiner Schriften nicht möglich ist. Subjektivität der Erkenntnis bedeutet nicht zwangsläufig Verfälschung oder Beliebigkeit, sondern die Pflicht zu einer gesellschaftskritischen Reflexion des eigenen subjektiven Blickwinkels. Unsere historische Schuld und Verantwortung verpflichten uns dazu, die Auseinandersetzung mit aktueller Politik nicht als beliebige Privatsache sondern als eine zwingend notwendige Aufgabe anzunehmen. Die historische Analyse darf keine intellektuelle Schöngeisterei oder moralisierende Verurteilung betreiben, sondern sie muss die Konsequenzen für unser eigenes gesellschaftliches Handeln aufdecken. Ich betrachte die aktuell zunehmende Mischung aus Politikverdrossenheit, rechtslastigem Populismus, bis hin zu offen praktizierter Rechtsradikalität mit zunehmender Sorge. Menschen aus anderen Kulturen fühlen sich - keine 80 Jahre nach dem Ende des Faschismus in Deutschland - erneut massiv bedroht. Unser - aus globalem Wirtschaften und der Ausbeutung der Natur resultierender - Wohlstand und dessen dramatische ökologischen Folgen wirken sich in anderen Regionen der Erde weitaus zerstörerischer und für die dort lebenden Menschen bedrohlicher aus als bei uns. Trotzdem versuchen die mitteleuropäischen Länder, den Zustrom von Flüchtlingen aus eben jenen Regionen so weit wie möglich zu begrenzen. Manche sind sogar bereit, unmenschliche Bedingungen in den Auffanglagern zur Abschreckung einer weiter zunehmenden Flüchtlingsbewegung hinzunehmen. Wir lassen einen Erdogan an der Grenze nach Syrien darin gewähren, Flüchtlinge einfach wieder zurückzuschicken und beschweren uns lauthals über die Weigerung Orbans, Flüchtlinge aufzunehmen. Das alles folgt einem heuchlerischen Kompromiss aus einer moralisierenden Theorie und der unseren Wohlstand sichernden Praxis. Haben wir so wenig gelernt, aus den Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus, dass wir uns schon wieder in dieselben Muster der Verdrängung flüchten? Dies alles widerspricht der aus unserer jüngsten Geschichte zwangsläufig resultierenden Verantwortung. Wir dürfen unseren Wohlstand nicht sichern, indem wir den ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer tatenlos zusehen. Wenn wir V. v. Weizsäckers Schweigen und Dulden zurecht kritisierenen, dann dürfen wir selbst nicht zu den Ungerechtigkeiten schweigen, an denen wir partizipieren.