Der historische Hintergrund - Einleitung und Überblick
Auf den folgenden Unterseiten wird das Neurologische Forschungsinstitut in Breslau zur Zeit des Nationalsozialismus insoweit dargestellt, als es die neuropathologischen Untersuchungen der in Lubliniec ermordeten Kinder betrifft. Parallel hierzu wird die Organisation und Durchführung der Kinder-Euthanasie in Lubliniec skizziert. Zwar können nicht alle Details berücksichtigt werden, aber ein besonderes Interesse gilt dem Leid der Opfer, dargestellt an ausgewählten Kindern-Schicksalen. Entsprechend der mittlerweile üblichen Praxis werden sie mit vollem Namen benannt. Sie sollen nicht anonymisiert, sondern ihre Würde als individuelle Persönlichkeiten geachtet werden. Wo immer von 'Euthanasie' die Rede ist, bezeichnet dieser Begriff selbstverständlung die Ermordung von Menschen mit Behinderungen zur Zeit des Nationalsozialismus. Meine Recherchen und Untersuchungen begleitete zunehmend der Zweifel, ob es zur Begründung und Durchführung der Euthanasie einer spezifischen "nationalsozialistischen Ideologie" und der Ausübung von Zwang bedurfte, oder ihre Organisation an längst bestehenden und weit verbreiteten Vorstellungen sowie Haltungen ansetzen konnte, die weit über das hinausgehen, was speziell unter dem Stichwort der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" (K. Bindung und A. Hoche, 1920) häufig angeführt wird. Zudem deutet die genauer analysierte Verbindung zwischen den Institutionen in Lubliniec und Breslau, sowie den Motiven der dort jeweils Handelnden darauf hin, dass die massenhafte Durchführung der Kinder-Euthanasie nur wenige überzeugte Täter benötigte, aber viele am Rande Mitbeteiligte und Beobachter, die das eher Erahnte duldeten, schwiegen oder wegsahen. Unter ihnen werden sicherlich viele gewesen sein, die keineswegs von der Berechtigung überzeugt waren Menschen mit Behinderungen zu ermorden. Das Dulden oder Schweigen mag wiederum ganz unterschiedliche Ursachen gehabt haben. Ein Institutsleiter hätte ganz andere Möglichkeiten gehabt sich zu informieren und Widerspruch wenigstens zu versuchen, als eine Krankenschwester. In dieser Hinsicht sind die internen Abläuf auf der Kinderfachabteilung B in Lubliniec von besonderer, aber bisher kaum beachteter Bedeutung. Dr. Buchalik entschied über die Medikation, ohne das tödliche Medikament selbst zu verabreichen. Und die Verabreichung unterlag nochmals einer sicherlich nicht zufälligen Abstufung. Die stets deutschstämmige Oberschwester übergab die Luminal-Tabletten den polnischen Schwestern, die sie den Kindern meist in einem Getränk aufgelöst geben mussten ohne überprüfen zu können, um welches Medikament es sich in welcher Dosierung handelte. Hier wurde ganz gezielt auch eine sprachliche Barriere eingesetzt. Dieses abgestufte System der Arbeitsteilung trennte zudem das Entscheiden vom Handeln. Den letztendlich Handelnden wurden ein klares Mitwissen und jegliche Entscheidungsbefugnis verweigert. Die Entscheidenden mussten selbst nicht aktiv handelnd töten. Auffällig ist die ganz ähnliche Arbeitsteilung auf der ärztlichen Ebene: Dr. Hecker führte die Diagnose durch und fällte die Selektions-Entscheidung, D. Buchalik setzte diese auf der Kinderfachabteilung B um. Damit wurde die Möglichkeit zum Selbstbetrug und zur inneren Ausrede systematisch erleichtert: Der Entscheidende konnte sich sagen selbst niemanden getötet zu haben. Der Tötende konnte sich einreden nur etwas vollzogen zu haben, was andere entschieden hatten und was eben ein anderer getan hätte, wenn er selbst sich geweigert hätte. Wer diese Organisationsstrukturen des Massenmordes untersucht, stellt sich unweigerlich die Frage, ob nicht wir selbst in unserer Gesellschaft heute in die Partizipation an Unrecht verstrickt sind, deren Verantwortung wir uns mit ähnlichen Argumenten entziehen. Diese beunruhigende Aktualität der Organisation des Unrechts mag nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass diese differenzierten Analysen so lange unterblieben und stattdessen alle Mitbeteiligten als ideologisch fehlgeleitete, von der Euthanasie überzeugte Täter umgedeutet wurden. Wir delegieren die Verantwortung für das Unrecht instinktiv an uns fremde, böse Menschen, um uns dem Anblick des Bösen in uns selbst entziehen zu können. Damit soll die Einzigartigkeit der Menschenverbrechen zur Zeit der Nationalsozialisten keineswegs relativiert, sondern die Wahrnehmung der unvermeidlichen Konsequenzen für uns heute deutlicher sichtbar gemacht werden.
Manche Fragen bleiben bis heute ungeklärt. Es ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, dass die eine oder andere durch die weitere Forschung noch beantwortet werden kann. Hierfür wird die Zusammenarbeit mit den polnischen Archiven und Forschern dringend notwendig sein, welche bereits unmittelbar nach dem Krieg begonnen haben Material zu sichern und die Hintergründe zu erforschen. Speziell die Kinder-Euthanasie in Lubliniec betreffend ist in Polen bereits 1949 eine erste Veröffentlichung erschienen (K. Marxen und H. Latynski, 1949), die noch heute - in der deutschen Medizingeschichte unbeachtete - interessante Aspekte beinhaltet. Bei K. Marxen handelte es sich um die 1939 sofort nach dem Überfall und der Besetzung Polens durch die Deutschen entfernte und durch E. Buchalik ersetzte polnische Chefärztin der Klinik in Lubliniec. Sie wurde in ein Konzentrationslager deportiert, konnte fliehen und arbeitete nach dem Krieg erneut in Lubliniec. Welche bewundernswerte Überwindung muss es diese Frau nach ihren eigenen Erfahrungen gekostet haben, schon 1949 diese sachliche Arbeit zu verfassen. Und es exisitieren noch heute Fotos von ihr, die keineswegs den Eindruck einer sachlich distanzierten, sondern eher im Dienst am Patienten zupackenden Persönlichkeit vermitteln.
K. Marxen im Militärkrankenhaus in Krakau während des polnisch-russischen Krieges
Dr. K. Marxen
(Quelle beider Bilder: http://www.historialubliniec.pl/index.php/kazimiera-marxen)
In Deutschland setzten entsprechende Bemmühungen erst Jahrzehnte später ein. Inzwischen gibt es Vereine wie den "Förderkreis Gedenkort T4", der nicht nur umfangreiches historisches Material zusammengestellt hat und laufend erweitert, sondern sich seit der Errichtung der T4-Gedenkstätte in Berlin in besonderer Weise um eine konkrete Erinnerung an die Opfer der Euthanasie verdient gemacht hat. Die hier dargestellten Zusammenhänge können also nur den aktuellen Stand der Recherchen aufzeigen. Umso wichtiger ist die genaue und vollständige Wiedergabe dessen, wovon mittlerweile begründet auszugehen ist.
Der Ort Lubliniec in Polen wurde von den Deutschen als Loben, oder auch Lublinitz bezeichnet. Alle drei Bezeichnungen beziehen sich auf denselben Ort. Im Folgenden wird stets die heute gültige polnische Bezeichnung Lubliniec verwendet. In den historischen Dokumenten der Zeitspanne, um die es hier geht, findet sich meist die Bezeichnung Loben.
Es mag eine naheliegende Schlussfolgerung sein davon auszugehen, dass es in der Zeit des Nationalsozialismus in Psychiatrischen Anstalten Ärzte gab, die von der Ideologie der Rassenhygiene und des Nationalsozialismus derart überzeugt waren, dass sie Menschen, deren Behinderung sie mit bestimmten Methoden diagnostizierten, als "lebensunwertes Leben" auffassten und anschließend töteten. Ebenso naheliegend mag die Schlussfolgerung sein, dass es zur gleichen Zeit in benachbarten, neurologischen und anatomischen Instituten Wissenschaftler gab, die entweder selbst nationalsozialistisch überzeugt oder einfach nur ausreichend skrupellos waren, die hirnanatomischen Präparate der Ermordeten für ihre wissenschaftliche Forschung zu nutzen.
Ganz sicher hat es solche Formen der Zusammenarbeit in erschreckendem Ausmaß gegeben. Dennoch liegt eine Gefahr der Fehlinterpretation darin, ohne jede genauere Anylyse vorauszusetzen, dass es immer und überall so gewesen sein muss. Für die Zusammenarbeit Lubliniec - Breslau lässt sich anhand zahlreicher Quellen und Belege nachweisen, dass ihm eine andere Struktur zugrunde lag. Das macht ihn historisch besonders interessant und entlastet H. J. Scherer sowie V. v. Weizsäcker keineswegs von ihrer Mitverantwortung. Denn es zeigt an einem konkreten Beispiel, dass die mörderische Kinder-Euthanasie überhaupt nur in ganz vielfältigen Varianten der Mitbeteiligung so erschreckend umfassend und reibungslos durchführbar war. Die wirklich entscheidende medizinhistorische Erkenntnis ergibt sich erst, wenn man V. v. Weizsäcker und H. J. Scherer nicht zu Nazis oder ethisch skrupellosen Wissenschaftlern uminterpretiert, sondern schonungslos offenlegt, dass sie sich gerade als innere Gegner des Nationalsozialismus dennoch verstricken ließen in das mit der Kinder-Euthanasie in Lubliniec verbundene Forschungsprojekt.
Möglicherweise spielte schon für die Tötungen in Lubliniec die nationalsozialistische Ideologie gar keine so alles bestimmende Rolle. Für die Leiterin der Jugendpsychiatrie, Frau Dr. E. Hecker, die dort eine der ersten Einrichtung dieser damals entstehenden medizinischen Fachrichtung gründete, war die Erkenntnisgewinnung mit einem bestimmten, methodischen Instrumentarium und auf dem Hintergrund einer generellen rassenhygienischen Einstellung ganz offensichtlich entscheidend. Die wissenschaftliche Forschung ist also hier bereits innerhalb der Tötungsanstalt das auch für die Ermordung der Kinder zentrale Motiv. E. Hecker wollte unbedingt in einem breit gefächerten Forschungsprogramm die neuroanatomischen Grundlagen von anlagebedingten und erworbenen Geisteskrankheiten in einem lokalisatorischen Sinne nachweisen, sowie unterscheiden. Sie führte bei allen zur Überweisung auf die Tötungsstation anstehenden Kindern zuvor ein Encephalogramm durch. Nach der Tötung obduzierte sie die Leichen, um ein entsprechendes neuroanatomisches Präparat im Neurologischen Forschungsinstitut in Breslau neuropathologisch untersuchen zu lassen. Ganz offensichtlich war ihr der Vergleich deren Ergebnisse mit ihren Encephalogrammen wichtig.
Dass ausgerechnet das neurologisch völlig anders orientierte Institut V. v. Weizsäckers (einem der entschiedensten Kritiker des Lokalisationsprinzips seit den 20er Jahren) diese neuropathologischen Untersuchungen - in "entgegenkommender" Weise (E. Hecker, 1944) - durchführte, ist medizinhistorisch betrachtet irritierend und beunruhigend zugleich. Selbst die sowohl politisch, als auch medizinisch ganz anders orientierten Neurologen in Breslau verstrickten sich durch ihr Schweigen, Dulden und Durchführen der Untersuchungen in die Kinder-Euthanasie.
In seinem Buch der Gestaltkreis vertrat V. v. Weizsäcker die These, dass unser Leben nicht nur von dem bestimmt wird, was wir tun, sondern auch dem, was er das "ungelebte Leben" nannte (V. v. Weizsäcker, 1940, GS, Bd. 4, S. 277) ). Auch sein eigenes Dulden und Schweigen mag ein ungewolltes Beispiel dafür gewesen sein.
Ein anderer Zusammenhang von gelebtem und ungelebtem Leben ließe sich für die Opfer der Kinder-Euthanasie aufzeigen. Jedes Leben ist bedeutsam und hinterlässt Spuren, die im Leben anderer noch nach Jahrzehnten zu entdecken sind – egal wie kurz oder lange sie oder er gelebt haben, welche Hautfarbe, Nationalität oder Intelligenzquotienten sie hatten und wie sie gestorben sind. Die unvorstellbare Fülle des ungelebtes Leben der in Lubliniec getöteten Kinder gehört zu ihrem gelebten mit dazu. Wenn diese Seite etwas dazu beiträgt, an sie zu erinnern, um sie vor dem Vergessen zu bewahren, dann hat diese Seite eine ihrer wichtigsten Aufgabe erfüllt. Darüber hinaus sei auf die folgende Internetseite eines Vereins hingewiesen, der sich dem Andenken der Opfer der Euthanasie in beeindruckender Weise widmet: des Förderkreises Gedenkort-T4. Es ist geplant, dort an die Opfer der Kinder-Euthanasie in Lubliniec ebenfalls zu erinnern.